Krippenbetreuung – artgerecht oder nicht?

Darf ein AP-Verfechter Krippenbetreuung gut finden? Dürfen wir von artgerecht Krippenbetreuung als eine Möglichkeit sehen? Ist frühe Fremdbetreuung Kindesmisshandlung? Lange Jahre nachdem mein Artikel „Attachment-Parenting funktioniert nicht“ erschienen ist und Jahre, in denen viele Menschen sich sehr darüber aufgeregt haben, dass ich AP jede Funktionslogik abspreche, gibt es jetzt die Debatte auf einer neuen Ebene.

Sind wir bei Artgerecht nun für oder gegen Krippenbetreuung?


Julia hat einen Blogpost geschrieben, in dem sie Jesper Juul darauf hinweist, dass es nicht für alle Eltern möglich oder sinnvoll ist, ihre Kinder drei Jahre lang vorwiegend zu Hause zu betreuen. Und sie hat öffentlich angedeutet, dass es Tage gibt, an denen Kinderbetreuung auch anstrengend sein kann:

„Hast du jemals an deiner geistigen Gesundheit gezweifelt, weil dir kein anderes Lied einfiel als ‚Baaauuuuarbeiter? können wir das schaffen?‘ „

Dafür hat sie ordentlich Schelte bekommen – einige haben ihr vorgeworfen, sie würde für Fremdbetreuung argumentieren, weil es mit Kindern zu Hause langweilig sei. Wer Julia kennt, weiß, dass das ferner nicht sein könnte: Julia hat eine viel höhere Bob-Der-Baumeister-Toleranz als zum Beispiel ich. Viele haben – wie so oft im Internet – gelesen, was sie lesen wollten und nicht, was da stand.

Julia hat in einem neuen Blogpost geantwortet. Ein Auszug:

Es ist so leicht zu verurteilen und das eigene Lebensmodell für das Alleinseligmachende zu halten (gerade in der AP Szene sind wir ja oft ganz groß darin).
Es ist leicht, sich nur mit „Gleichgesinnten“ zu umgeben.
Aber das führt uns als Gesellschaft nicht weiter.
Uns führt nur weiter, wenn wir versuchen, die Spiegel und Filter beiseite zu legen und wirklich, wirklich unsere Herzen aufzumachen und die anderen zu sehen.

Sind wir nun für oder gegen Krippenbetreuung? Die Antwort ist sehr einfach:

Wir sind für Wahlfreiheit. Für die Wahlfreiheit ALLER Familien. Wir sind dafür, dass Familien eine ECHTE Wahl haben. Und das ist nicht so einfach.

Derzeit herrscht eine starker Druck in Deutschland, Kinder in die Krippe zu geben. Für Interessierte: Herbert schreibt in „Die Kindheit ist unantastbar.“ darüber, wie er den gesellschaftlichen Prozess dahinter sieht. Und der schränkt die Wahlfreiheit ganz klar ein.

Gleichzeitig empfinden viele Eltern, die arbeiten wollen oder müssen, auch den Gegendruck: ihre Kinder nämlich auf keinen Fall und unter keinen Umständen in irgendwelche Fremdbetreuung zu geben. Ihnen wird Angst und ein schlechtes Gewissen gemacht. Sie werden mit Studien und Drohungen bombardiert, die Kinder würden zwangsläufig verhaltensgestört, es gebe in jedem Fall irreparable Schäden an der Bindung zwischen Eltern und Kind und überhaupt – diese Leute können ihre Kinder doch nicht lieb haben. /Ironieoff

Ich finde, wir machen es uns damit zu einfach. Viel zu einfach. Natürlich ist Krippenbetreuung ein Problem, so wie sie gerade abläuft. Aber nicht jeder kann so arbeiten wie z.B. Julia und ich. Wir können nicht in andere hineinsehen. Wir wissen nicht, warum sie ihre Entscheidungen treffen. Und aus meiner Sicht ist das auch gar nicht das Problem. Das Problem ist, dass wir in Deutschland nicht ausreichend qualifizierte, bindungsfreundliche Betreuungsmöglichkeiten haben. Dass Kitas und Krippen übervoll sind, die Mitarbeiter schlecht bezahlt, das Wissen häufig nicht auf dem neuesten Stand – und selbst wenn, auch dort kann keiner zaubern, mit einer Betreuung von 1:5, 1:12 oder gar – wie in Kitas de facto oft, wegen Krankenstand etc. – 1:25 (!?!?!) kann es gar nicht gehen!

Die Frage der Krippenbetreuung sollte uns Eltern daher nicht spalten. Sie sollte uns Eltern vereinen, und zwar darin, dass wir dafür kämpfen, dass Eltern echte Wahlfreiheit haben: Krippe oder nicht. Dass Kindern in jedem Fall ein Bindungsangebot gemacht wird: Zu Hause oder in der Betreuung. Dass Familien gut leben können – entweder finanziell gut oder mit gutem Gewissen, egal wie sie sich entscheiden.

Wir sollten weiter dafür arbeiten, dass Eltern Kinderbetreuung haben können, die Bindung ermöglicht und artgerecht ist – so dass Eltern echte Alternativen finden, wenn sie eine brauchen oder wollen.

Dafür stehe ich. Dafür steht Julias Blogpost. Das ist artgerecht – einander zu helfen, füreinander einzustehen, für eine Verbesserung der Zustände zu kämpfen, damit jeder die Wahl treffen kann, die er für sich braucht – denn artgerecht ist auch, sich frei entscheiden zu können (Vortrag auf dem AP-Kongress).

Und bis es soweit ist: Gründet Mütterteams, geht zu eurem Artgerecht-Coach und tauscht Ideen aus und baut Netzwerke in eurem „Dorf“ auf, wo immer das auch ist.

Eure Nicola

4 Gedanken zu „Krippenbetreuung – artgerecht oder nicht?

  1. Gut gebrüllt, Löwe!

    Und ja: Um die verdammte Wahlfreiheit geht es (oder sollte es gehen) in der Vereinbarkeitsdebatte.

    Ich habe als Elternteil die freie Wahl, ob ich stille (und wie oft, wie lange…..), ob ich trage (same), familienbette oder eben – nicht. Dieselbe freie Wahl sollte sich mir auch stellen, wie ich mein Kind versorge(n lasse), wenn ich arbeiten gehe.

    Dass ich als AP-Mutter selbstverständlich (!!!!!) für eine artgerechte, bindungsnahe, dauerhafte Betreuung sorge – wie kann das ein anderer APler anzweifeln? Wie kann ein APler einem anderen „Fremdbetreuungsbefürwortung“ vorwerfen, wo wir doch alle tolerant, freundlich und ruhig (jaha – meistens!) sind und uns Gedanken über uns und unsere Mitmenschen samt Situation und Umwelt machen?

    Blöde Mommywars, ehrlich wahr. Blödes, kräftezehrendes aufeinandereindreschen.

  2. Klingt toll! Aber was bedeutet „echte Wahlfreiheit“? Wie soll sie aussehen?

    Statt endlos über das Für- und Wider von Krippenbetreuung zu diskutieren, sollte man der Realität einfach ins Auge sehen, das ist schon richtig. Wir brauchen Krippen und Kitas und zwar gute. Solche, in denen die Erzieher Kraft und Zeit haben, unseren Kindern Geborgenheit zu geben. Eine Krippe wird nie ein gutes Zuhause (denn wir gehen ja immer vom Idealfall aus) ersetzen, aber sie kann es ergänzen.

    Wenn Erzieherinnen öffentlich darüber berichten, dass gute Tage die sind, an denen sie es schaffen, zweimal auf Toilette zu gehen, läuft ordentlich etwas schief (aktueller Zeit-Artikel aus HH-Kitas).

    Darüber sollten wir uns aufregen, diskutieren! Alles andere sind Luxusdebatten, die wir führen können, wenn es eine „echte Wahlfreiheit“ gibt.

  3. Liebe Eltern, ihr vergesst leider eine wichtige Säule der Kinderbetreuung – die Kindertagespflege. Wir haben die Möglichkeit in einer Kleingruppe familiennah und bindungsorientiert zu arbeiten.Ich bin Erzieherin und habe vor meiner Tätigkeit als Tagesmutter in Krippen und Kindergärten gearbeitet. Ich wollte für meine Kinder mehr Bindung, mehr Familie, mehr Geborgenheit. Also betreue ich nun als Tagesmutter bis zu 4 Tageskinder in unserem Haus mit eigenem Spielzimmer und Kinderschlafzimmer (deutschlandweiter Durchschnitt sind übrigens 3,3 Kinder pro Betreuungsperson). Ich betreue – wie viele meiner Kollegen – bindungsorientiert. Wir haben einen Bildungsauftrag und werden vom Jugendamt gefördert und kontrolliert. Außerdem kosten wir nicht mehr als ein Krippenplatz, betreuen oft flexibel und haben eine Vertretung, die den Kindern vertraut ist. Eine super Alternative also zur Krippenbetreuung!

  4. Jennifer, du sprichst mir aus dem Herzen. Unser Großer ist mit 14 Monaten (Ende Elterngeld) zur Tagesmutter gekommen und ich bin sicher, dass das für uns nicht nur finanziell nötig war (Geld verdienen müssen), sondern auch für ihn und seine Entwicklung sinnvoll. Dort hatte er eine großartige Bindungsperson (auch jetzt, wo er in den Kindergarten geht, haben die beiden noch eine unglaublich innige Beziehung – da war die Bindung sehr stabil und sehr gegenseitig) und dort hatte er bis zu 4 andere Kinder, mit denen er spielen und von denen er lernen konnte. Das hätten wir Eltern ihm gar nicht bieten können. Und das ist allemal die bessere Variante, als die Kinder bei Großeltern zu parken, die womöglich gänzlich andere Erziehungsideale haben. (Nein, das ist nicht bei allen Großeltern der Fall, ich weiß.) Wir haben uns jedenfalls eine TaMu gesucht, die sogar windelfrei mitgemacht hat und darin deutlich besseren Instinkt entwickelt hat als wir Eltern. Ich freue mich jetzt schon darauf, wenn in einem Jahr meine Kleine dann auch zu ihr gehen darf. (Und die TaMu freut sich auch schon darauf. Als sie neulich zum Babygucken bei uns zu Besuch war, hat sie sich gleich in ihr künftiges Tageskind verliebt.)
    Das schöne an Tagesmüttern ist ja, dass sie wirklich ein bisschen wie Zweitmütter sind. Nur eben Mütter mit Ausbildung. Wir haben uns in der einen oder anderen Erziehungsfrage schon bei ihr Rat geholt. Auch das ist ein Vorteil: Sie kennt das Kind ähnlich gut, wie sonst nur die Eltern. Das ist bei dem Betreuungsschlüssel in einer Krippe gar nicht möglich.
    Für mich ist die TaMu durchaus Teil jenes Dorfes, das man für die Kindererziehung braucht. Und zwar ein äußerst wichtiger Teil.

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